Ich wollte die letzten beiden Tage etwas über Urbanität schreiben. Inwieweit beeinflussen Städte bzw. Großstädte das soziale Leben? Irgendwie bin ich mir nicht ganz sicher, ob man die blanke Theorie auf das städtische Umfeld meiner Gegend anwenden kann. Es wäre dann doch eine berechtigte Frage bei über 750 Jahren Stadtgeschichte, wie weit Tauberbischofsheim oder Külsheim das Weltgeschehen und das urbane Lebensgefühl beeinflusst haben könnten.
Blick auf Külsheim. Über 750 Jahre Stadtrecht.
Louis Wirth beschreibt eine Stadt als eine relativ große, dicht besiedelte und dauerhafte Niederlassung gesellschaftlich heterogener Individuen. Urbanität ist für ihn eine Tendenz des Weltgeschehens. Der Einfluss der Städte, so Wirth, den sie auf das menschliche Leben der Gesellschaft ausüben, ist größer, als wir es auf Grund des Prozentsatzes der Stadtbevölkerung vermuten würden. Urbanisierung bezeichnet das Hervortreten von Merkmalen einer bestimmten Lebensform.
Harald Schmidt beschrieb das Ganze mal lapidar, dass der Lieblingssohn bei seinem Umzug nach Köln in den Regionalzug als Muttis Liebling ein- und stockschwul am Hauptbahnhof wieder ausstieg.
Die frühen soziologischen Untersuchungen der Städte beschreiben dabei den modernen Charakter der Veränderungen des großstädtischen Individuums. Der Großstädter, so Schelsky, fühlt sich wohl. Sie Sachlichkeit seiner Arbeit schützt ihn vor Willkür und er hat die Freiheit, die menschlichen Beziehungen der Freizeit nach Belieben auswählen zu können. Die Einsamkeit bzw. Isolation wird ein bejahter Tatbestand der versachlichten Berufstätigkeit und privaten Freizeit.
Schon Anfang des 20. Jahrhunderts beschreibt Simmel das Geistesleben der Großstädter und zeigt die Notwendigkeit der Blasiertheit und der Antipathie bzw. Aversion der einzelnen Individuen wegen der permanenten Reizüberflutung.
Ulrich Nennen griff bei einem Vortrag über die Utopie sogar noch weiter vor und wagte die These, dass gerade die Stadtgründung und die daraus resultierende Mythen-Götter-Tötung, der Ursprung des utopischen Denkens ist. Ein Denken, das auf dem Glauben an die Veränderlichkeit von Machtordnungen beruht.
Es ist also offensichtlich, dass die Stadt die Geisteshaltung des Menschen beeinflusst. Durch die Moderne wurde der Prozess beschleunigt. Die größten Veränderungen werden zuerst in den jungen industriellen Großstädten evident, um dann als Urbanität weit über die formalen Stadtgrenzen hinaus, das Weltgeschehen zu beeinflussen. Das ist an der soziologischen Forschung zu erkennen, die schon früh die Geisteshaltung der Großstädter als eine besondere erkannte.
Mittlerweile ist die Moderne bzw. die Postmoderne bzw. die Urbanität als gesellschaftliche Organisationsform auch hier angekommen. Die einzelnen Aspekte der Urbanität, die aus der Bevölkerungsanzahl, -dichte und -heterogenität erwachsen, lassen sich auch in den ländlichen Gebieten finden. Die Frage ist nun, wenn nun auch das „ländliche“ Umfeld hier als urbanisiert betrachtet werden kann, warum dann ein umgekehrter Rückfluss in Form von Einflüssen nicht statt findet bzw. als höchst unschicklich gilt? Die großen Metropolen rekrutieren viele Bewohner aus dem urban beeinflussten bzw. urbanisierten Umfeld, dennoch gilt es, möglichst zügig die „ländliche“ Herkunft zu verleugnen, um Charakter- und äußerliche Eigenschaften der Stadt anzunehmen, die sowieso schon die eigenen sind.
In der Großstadt muss das einzelne Individuum möglichst schnell unterscheidbar sein. Das bildet Sonderarten und besonders auffälliges Verhalten heraus. Auf dem ersten kurzen Blick muss klar Richtung und Geisteshaltung erkennbar sein. Aber diese sollte auf keinen Fall eine „ländliche“ sein. Kaum vorstellbar, dass man in eine Metropole geht, ein großes Schild mit sich herumträgt und darauf schreibt: „Ich bin ein Landei!“. Darunter steht dann: „Ich bejahe eine urbanisierte Lebensform, die versachlichten Beziehungen, die Tatsache, dass ich einen komplett anderen Beruf als meine Nachbarn habe, die Geldwirtschaft und die Möglichkeit primäre Kontakte zu vermeiden, und ich stehe volle Kanne darauf, dass mir der Nachbar ein Ei leiht, wenn ich Kuchen backen möchte und ich bemerke, dass ich zu wenig Eier da habe.“
Grüße
W.